Der Alltagsverstand meint, Realität sei etwas, das man in der Welt vorfindet, im Sinne von: Alles, was ich mit meinen Sinnen wahrnehme, ist die Realität, ich selber somit auch - ich nehme mich ja wahr. Realität ist dann die Gesamtheit von allem, was mit den physischen Sinnen wahrnehmbar ist. Dabei wird fleissig extrapoliert: Wenn ich in Luzern bin und keine Wahrnehmung von Zürich habe, ist Zürich trotzdem ein Teil der Realität - halt einfach nicht grad hier. Völlig selbstverständlich wird dabei angenommen, dass es exakt eine Realität gibt.
Durch all diese Annahmen (die ich jetzt dann gleich alle verlassen werde) ergibt sich logisch, dass alle Menschen in der gleichen einen Realität leben. Wenn also einer etwas sieht, das ich nicht sehe, dann ist der Betreffende krank. Genau aus dieser Überlegung sind ganze "Wissenschafts"-Gebiete und Industrien entstanden: Wer etwas sieht, das ich nicht sehe, bekommt eine Tablette, und schon sieht er wieder genau das, was ich sehe. Wer genügend blind ist, gilt als gesund. Dazu gibt es eine unglaubliche Menge an Konzepten, Lehrmeinungen, Testverfahren, Beweisen und tausend andere Dinge, die nichts anderes tun, als die eine, die richtige Realität zu bestätigen.Fangen wir nochmal von vorne an: Es gibt Lebewesen mit so etwas wie einem Bewusstsein. Diese Lebewesen haben Wahrnehmungen von Dingen, die in ihrer Gesamtheit als Realität bezeichnet werden. Aber nur schon die unterschiedliche Sehkraft von zwei Menschen widerlegt diese Vorstellung vollständig: A sieht eine Bergziege, B sieht sie nicht. A lebt in einer Realität mit Bergziege, B lebt in einer Realität ohne Bergziege. Analog könnte ich hier weitere Ebenen besprechen: Wie Signale von meinen Sinnen überhaupt zu Gedanken werden; wie es überhaupt möglich ist, etwas als das zu erkennen was ist; was für eine Rolle mentale Landkarten und vorher festgelgte Kategorisierungen spielen, und so weiter. Das lasse ich jetzt alles bleiben - die Bergziege genügt.
Akzeptieren wir, dass die Bergziege da ist und gleichzeitig nicht da ist, gibt es nur eine Schlussfolgerung: Es gibt soviele Realitäten, wie es beobachtende Lebewesen gibt. Kommunikation und Interaktion sind trotzdem möglich, weil sich diese Realitäten zum Teil überlappen und zum Teil gegenseitig aufeinander einwirken.
B nimmt nun einen Feldstecher und sieht jetzt die Bergziege auch: B hat einen Realitätswechsel vollzogen, von einer Realität ohne Bergziege in eine Realität mit Bergziege. Dieses konkrete Beispiel können wir generalisieren: Jede Aktion und jede Wahrnehmung aktiviert eine bestimmte Realität. Die neu aktivierte Realität kann dieselbe sein, wie diejenige, in der man gerade einen Moment vorher lebte, es kann aber auch eine andere sein.
Wenn Du bis hierher gelesen hast, hast Du wahrscheinlich schon eine ziemliche Bewusstseinserweiterung mitgemacht. Oder Du bist verwirrt und schaffst es irgendwie gar nicht, diese Sachverhalte richtig nachzuvollziehen. Oder Du verwirfst all diese Überlegungen als Humbug - das ist eine sehr beliebte Variante, denn: Es kommt der Verstand mit ins Spiel. Dein Verstand will mit allen Mitteln erreichen, dass Du dabei bleibst, dass es nur eine Realität gibt, und zwar für alle Lebewesen dieselbe. Die Einstufung der Bewusstseinserweiterung als Humbug ist eine Möglichkeit dazu. Eine weitere Möglichkeit ist, Realitätsänderungen mit künstlich konstruierten Erklärungen wegzufiltern. Beliebte Vorgehensweisen: Das habe ich mir nur eingebildet; das hab ich offensichtlich nicht richtig gesehen; da habe ich anscheinend was vergessen; ich bin zu dumm / zu wenig gebildet / zu naiv / habe zuwenig Erfahrung / bin nicht gut im Einschätzen.
A fragt B: Wo ist die Konfitüre?
B antwortet: Im Kasten ganz rechts, auf dem untersten Regal.
A geht hin und sieht nach, und sieht im Kasten ganz rechts auf dem untersten Regal keine Konfitüre, und sagt: Da ist keine Konfitüre.
B antwortet: Doch, die ist da, schau halt richtig.
A schaut nochmal, sieht keine Konfitüre, sagt zu B: Aber da ist keine.
B antwortet: Ich zeig es Dir.
B kommt, öffnet den Kasten ganz rechts und zeigt auf die Konfitüre, die auf dem untersten Regal steht.
A sieht die Konfitüre, schnappt sie sich, schmiert sich ein Brot und wundert sich - oder auch nicht.
Diese Geschichte spielt sich jeden Tag ab, im Leben jedes Menschen. Nicht immer geht es um Konfitüre, nicht immer geht es um die Lokalisierung eines Objektes, aber es geht immer darum, eine bestimmte Realität zu aktivieren. Wenn A in der Geschichte ein Kind ist, und B seine Mutter, könnte diese Geschichte so zustandekommen, dass das Kind keinerlei Vorstellung hat davon, wie die Konfitüre aussieht. Da es kein Bild hat davon, geht es unbewusst davon aus, dass die Konfitüre auch nicht da sein kann. Gibt es kein Bild, gibt es auch keine Existenz, also gibt es auch keinen Ort. Resultat: Das Kind aktiviert eine Realität, in der die Konfitüre nicht existiert und deshalb auch nicht im Kasten steht. Nun kommt die Mutter hinzu, mit jahrzehntelangem Training in der Vorstellung dass es nur eine Realität gibt und dass es nur so sein kann und nicht anders. Mit dieser starken Realitätskonstruktion vermag die Mutter die Realitätskonstruktion des Kindes zu überlagern, oder umgekehrt: Die noch nicht festzementierten Konstruktionsmechanismen des Kindes erlauben es ihm, sich ganz einfach der Realitätskonstruktion der Mutter anzuschliessen. Die Folge ist: Kaum macht die Mutter den Kasten auf, mit dem festen Wissen, dass die Konfitüre da ist, aktiviert auch das Kind diejenige Realität, in der sich die Mutter gerade befindet und sieht jetzt die Konfitüre auch.
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